Thomas Baum
Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Menschenhatz im Mühlviertel
07. 05. 2023, Ried in der Riedmark
Sehr geehrte Damen und Herren,
stellen wir uns vor, diese Gedenkfeier fände an einer Universität oder auf einem Basar in Teheran statt. Oder an einem öffentlichen Platz in Moskau. Nehmen wir an, wir würden dort nicht nur einen Blick in eine unrühmliche Vergangenheit werfen, sondern auch die Gegenwart genauer betrachten, vielleicht sogar heutige politische Entscheidungsträger:innen unter die Lupe nehmen und mit aller Deutlichkeit für Meinungsfreiheit und gleiche Rechte für alle eintreten.
Wir können uns ausmalen, wie dort mit systemkritischen Menschen verfahren wird. Sie werden als Verbrecher:innen beschimpft. Zu etlichen Jahren Haft und Stockhieben verurteilt. Für Frauen genügt es, kein Kopftuch zu tragen, um gnadenlos verfolgt und bestraft zu werden. Es reicht auch aus, als Mitglied der „LGBTQIA+“-Community erkannt oder ausspioniert zu werden. Menschen werden misshandelt, gefoltert und im schlimmsten Fall wegen Korruption auf Erden und Feindschaft gegen Gott hingerichtet.
Ich würde gern von mir behaupten, dass ich den Mut hätte, mich überall dort – an Ort und Stelle – an die Seite jener großartigen Menschen zu stellen, die mit ihrer Haltung, ihren Solidaritätsbekundungen und Protesten ihre Freiheit und ihr Leben riskieren. Für viele reicht es schon aus, offen und ehrlich zu leben – allein das gilt schon als Rebellion.
Gern würde ich mit Sicherheit bezeugen, dass ich die Courage hätte, mich in Moskau öffentlich gegen die russische Invasion in der Ukraine auszusprechen und eine sofortige Beendigung dieses schrecklichen Krieges einzufordern. Eine Journalistin wurde dafür gerade zu sechs Jahren Straflager verurteilt.
Was ich mir von mir wünsche, kann ich selbst nicht garantieren. Weil die reale, alltägliche Situation in diktatorisch regierten Staaten über meine Vorstellungskraft hinausgeht. Weil ich die Dimension der Not, Verzweiflung und Wut und der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmtheit nur ansatzweise erahnen kann.
Ich besitze das große Privileg, nach wie vor in einem staatlichen System mit freien Wahlen, einem Mehrheits- und Konsensprinzip und dem gesetzlich verankerten Schutz von Minderheiten zu leben.
Dieser Rechtsanspruch ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Die Demokratie als Staatsform verliert weltweit an Boden. Einige der bestehenden Demokratien – inklusive Österreich – haben deutlich an Qualität eingebüßt und entwickeln sich zum Teil zu sogenannten defekten Demokratien. Im weltweiten Durchschnitt gibt es weniger freie und faire Wahlen, weniger Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, und auch die Gewaltenteilung wird immer weiter ausgehöhlt.
Zugleich macht Hoffnung, dass beim zivilgesellschaftlichen Engagement im globalen Durchschnitt kein Rückgang zu verzeichnen ist. Trotz des allgemeinen negativen politischen Trends stemmen sich Zivilgesellschaften weltweit mit unermüdlicher Konsequenz gegen die zunehmenden Autokratisierungstendenzen. Sie benennen Missstände und Ungerechtigkeiten, üben Protest und leisten Widerstand.
Eine Form dieser notwendigen und konsequenten gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeit ist das stetige Wachhalten der Erinnerung. Und das Lernen aus unserer eigenen Geschichte. Auch wenn das bewusste Erinnern immer wieder einiges an Überwindung kostet.
Weil die damaligen, entsetzlichen Geschehnisse so unglaublich beschämend sind. Weil sie uns darüber Aufschluss geben, wozu entfesselte, von einer wahnsinnigen, abartigen Idee vergiftete Menschen fähig sind. Welch widerliche, abscheuliche Taten sie zu begehen imstande sind.
Entschieden würde ich von mir erwarten, dass ich in den ersten Februartagen 1945 nicht zu jenen Zivilist:innen gehört hätte, welche SS, Wehrmacht, Gendarmerie und den Volkssturm brutal und bestialisch dabei unterstützt haben, die aus dem Block 20 im Konzentrationslager Mauthausen geflohenen Häftlinge zu jagen, zu ergreifen, zu erschießen oder zu erschlagen und hier, in Ried in der Riedmark, dem Stützpunkt dieser fürchterlichen Treibjagd, im Lichthof der Volksschule auf einen Haufen zu stapeln.
Gerne wäre ich so mutig und unerschrocken wie die Schwertbergerin Maria Langthaler gewesen, die ihr eigenes und das Leben ihrer Familie aufs Spiel setzte, indem sie zwei der verfolgten russischen Häftlinge auf ihrem Hof versteckt hielt, sie 92 Tage lang entgegen aller Vorschriften ernährte und pflegte und ihnen so das Leben rettete.
Ich hätte auch gerne das Rückgrat und die Entschlossenheit eines Johann Gruber besessen, jenes Priesters, den man auch Papa Gruber nannte, und dem es gelungen ist, im Konzentrationslager Gusen, im sogenannten Vorhof zur Hölle, mit eingeschleustem Geld, Medikamenten und Nahrungsmitteln eine geheime Hilfsorganisation für die geschundenen und drangsalierten Häftlinge aufzubauen, und der dafür letzten Endes grausam gefoltert und ermordet wurde.
Das bewusste Erinnern bedeutet weitaus mehr als das Begreifen historischer Fakten und Ereignisse: Es ist schmerzhafte Biografiearbeit. Und zwar nicht nur in den großen geschichtlichen Zusammenhängen, sondern auch im Rahmen unserer eigenen, persönlichen Familiengeschichten, unserer Väter- und Mütterbeziehungen, unseres Zugangs zum Verhalten und der Haltung unserer Großmütter, Großväter und inzwischen auch Urgroßeltern.
Nichtwissen, Verdrängen und Verschweigen erlöst nicht von der Belastetheit. Wir dürfen es uns, unseren Kindern und Kindeskindern und den Generationen nach ihnen nicht ersparen, uns dieser Schuld immer wieder bewusst und aktiv zu stellen. Weil uns das Vergangene auch immer wieder vor Entwicklungen im Heute und im Morgen warnt.
Denken wir an den 6. Jänner 2021: An den beispiellosen, fassungslos machenden Sturm gewalt-tätiger Randalierer:innen auf das Kapitol in Washington. Ausgelöst und angefeuert vom bereits rechtmäßig als Präsident der Vereinigten Staaten abgewählten Donald Trump, der regelmäßig und konsequent die demokratischen Spielregeln und den Rechtsstaat missachtet hat und bis heute ungeniert und mit vollem Kalkül an der Lüge eines angeblichen Wahlbetrugs festhält.
Führen wir uns den 8. Jänner 2023 vor Augen: Die von blinder Zerstörungswut getriebene Meute bei der Verwüstung von Regierungsgebäuden in der Hauptstadt von Brasilien. Wieder ein Präsident, der trotz seiner faktischen Abwahl nicht weichen wollte, Zweifel am Wahlsystem streute und Verständnis dafür äußerte, dass seine Anhänger:innen im ganzen Land zahlreiche Fernstraßen blockierten.
Zwei alarmierende Beispiele über den international besorgniserregenden Gesundheitszustand der Staatsform Demokratie.
Pandemie, Krieg, Energie- und Klimakrise, Teuerungen, … In dauerhaft unsicheren Zeiten wächst der Ruf nach einfachen, autoritären Lösungen. Der permanente Krisenmodus und eine emotional brodelnde Mixtur aus Kontrollverlust, Benachteiligungsempfinden, existenziellen Sorgen und Zukunftsängsten bilden den idealen Nährboden für Taschenspieler:innen und Scharlatane.
Mit den üblichen Trümpfen im Ärmel wissen sie genau, welche Karten stechen: Demokratie-feindlichkeit, Ausgrenzung, Rassismus, Spaltung.
In Italien soll ein neues Gesetz – ganz nach dem Vorbild des faschistischen Diktators Benito Mussolini – die Reinheit der italienischen Sprache bewahren, indem der Gebrauch von Fremdwörtern verboten wird und bei Nichteinhaltung drakonische Strafen drohen.
Im US-Bundesstaat Florida hat die Regierung ein umstrittenes Verbot für den Unterricht über sexuelle Orientierung und Geschlechteridentität nun auf alle Klassen öffentlicher Schulen ausgeweitet.
Der US-Bundesstaat Tennessee hat Drag Shows im öffentlichen Raum verboten. In Montana wurde eine Trans-Abgeordnete aus dem Parlament ausgeschlossen.
In Schweden beschloss die am weitesten rechtsstehende Regierung in der Geschichte des Landes die Beschränkung des Familiennachzugs bei Flüchtlingen und die Absenkung der Asylzuwanderung auf das niedrigste mögliche Niveau, das laut EU-Recht noch zugelassen ist.
Doch wir müssen gar nicht über die Grenzen unseres Landes ins benachbarte Europa und darüber hinaus blicken. Auch hier bei uns gibt es ausreichend Gelegenheit, oder besser die gebotene Notwendigkeit, Haltung zu zeigen und Position zu beziehen. Anlässe dafür werden uns am laufenden Band geliefert.
Beispielsweise mit dem mehrfach versuchten Vorstoß, die Europäische Menschenrechtskonvention zu überarbeiten und damit an den Grund- und Menschenrechten zu rütteln.
Oder mit dem ständigen Hochfahren und Aufblasen des Migrationsthemas, um damit von den wirklich drängenden aktuellen Herausforderungen abzulenken. Wenn in Österreich etwas nicht funktioniert, kann man laut Süddeutscher Zeitung beginnen, von zehn herunterzuzählen – und bevor man bei fünf ankommt, sagt meist schon der/die erste Politiker:in: „Die Ausländer waren’s!“
In Wien wurde Kindern erst vor wenigen Wochen eine altersgemäße, herzerwärmende Geschichte vorgelesen, in der es um Selbstfindung, Nächstenliebe und den Weg zum Glücklichwerden geht.
Alleine der Umstand, dass dieses Märchen von einer Drag Queen vorgelesen werden sollte, veranlasste rechtsextreme Identitäre, christliche Fundamentalist:innen, Verschwörungstheoretiker:innen und – wen wundert es – die Freiheitliche Jugend allen Ernstes dazu, mit Transparenten und Sprechchören vor der Türkis Rosa Lila Villa aufzumarschieren.
In dieses beschämende Beispiel an Vorgestrigkeit reiht sich nahtlos die neue Niederösterreichische Landesregierung ein, die Gastwirt:innen für das Blunzengröstl und den Kaiserschmarrn auf der Speisekarte eine Prämie garantiert, während mediterrane Calamari fritti und spanische Piementos leer ausgehen.
Übertroffen wird diese ewig gestrige Symbolpolitik noch von der realitätsfernen Anordnung, dass Pausengespräche in Schulen nur mehr in deutscher Sprache geführt werden dürfen.
Integration auf Niederösterreichisch. Unterstützt und ermöglicht von einer Partei, die sich als christlich-sozial bezeichnet.
Sie stattet einen Politiker mit dem Posten des zweiten Landtagspräsidenten aus, der eine Unterkunft von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mit Stacheldraht einzäunen ließ, Käufer:innen von koscherem Fleisch registrieren lassen wollte und einem 17-jährigen Mädchen mit Migrationshintergrund eiskalt ins Gesicht sagt, dass Wien ohne Leute wie sie noch Wien wäre.
Sie holt einen Politiker in die Landesregierung, in dessen Burschenschaft Germania ein Liederbuch kursierte, das antisemitische und rassistische Texte mit dem Verdacht der Wiederbetätigung nach dem Verbotsgesetz enthielt, der die niederösterreichische Landeshauptfrau eine Moslem-Mama nennt und die österreichischen Hilfsgelder für Erdbebenopfer in der Türkei als unverfrorenes Millionengeschenk an das Ausland bezeichnet.
Die ÖVP koaliert, so wie auch in Oberösterreich, mit einer Partei, deren Chef vergangene Woche neben Viktor Orbán als einer der Hauptredner bei einem internationalen Vernetzungstreffen der extremen Rechten in Ungarn aufgetreten ist und der am 1. Mai in einem Bierzelt dazu aufgerufen hat, es dem Orbán nachzumachen und die Festung Österreich zu bauen.
„Der Korridor des Erträglichen wird laufend ausgelotet“, schreibt die Journalistin Muzayen Al-Youssef im Standard. „Heute regt uns das alles auf. Morgen sind es komplett vertretbare Meinungen. (…) Der Rahmen verschiebt sich immer weiter nach rechts. Die Grenze des Akzeptablen verschwimmt.“
Die niederösterreichische Landeshauptfrau, der oberösterreichische Landeshauptmann und inzwischen auch deren Kollege in Salzburg müssen, könnte man meinen, einen besonders robusten Magen haben. Sich für wirklich gar nichts zu schade sein.
Oder ihre Einlassung mit dem äußerst rechten Rand ist Teil eines bewussten Plans und bereitet Konstellationen solcher Art nicht nur auf Länder-, sondern auch auf Bundesebene vor. Ja, es sieht ganz so aus, als kokettierten die Konservativen in ihrer posttürkisen Traumatisierung und Ratlosigkeit beim Versuch eines verzweifelten Machterhalts mit einem erneuten Pakt mit der Ibiza-Fraktion.
Damit könnte uns eine Wiederaufnahme und Fortsetzung jenes gesellschaftspolitischen Klimas blühen, das die Publizistin Natascha Strobl als „rohe Bürgerlichkeit“ bezeichnet, als „eine harte, autoritäre Gesellschaft, der es vielfach am Gefühl für Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness fehlt.“
Das Kurzzeitgedächtnis vieler Wähler:innen speichert offenbar nicht ab, auf welche Art und Weise sich die österreichische Rechte vor nur vier Jahren selbst entlarvt und aus der Regierung torpediert hat. Vermutlich ist der durch aktuelle Probleme angefeuerte Unmut und Frust stärker als die Frage, in welcher gesellschaftspolitischen Atmosphäre wir in den nächsten Jahren leben wollen.
Wir blicken doch unter anderem in die Vergangenheit, um eine lebenswerte Zukunft vorzubereiten. Alexander Kluge spricht in einem Interview in der Zeit von der Notwendigkeit einer attraktiveren Wirklichkeit.
Insofern wäre es auch für Parteien links von der Mitte dringend angesagt, sich weniger mit sich selbst zu beschäftigen, sondern eine interessante und starke Alternative zu bieten und für die nötigen sozialpolitischen Perspektiven zu sorgen.
Auf der Grundlage von Werten, die einen Gegenentwurf zum aktuellen Trend der Verrohung abbilden. Soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, solidarischer Zusammenhalt, achtsamer Umgang mit unseren ökologischen Ressourcen. Und die Wertschätzung und Achtung unterschiedlicher Lebensentwürfe.
Damit nicht schon bald, wie vom FPÖ-Chef angekündigt, in unserem Land ein anderer Wind weht und sich rechtswidrige und brutale Pushbacks von Flüchtlingen laut dem Chef der oberösterreichischen FPÖ den höchsten österreichischen Orden verdient hätten.
Nein, Friede, Freude, Eierkuchen herrscht bei uns lange noch nicht, hat es der Philosoph Michel Friedman am Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen im Parlament treffend ausgedrückt. Und er wies auf Wahlkämpfe in Österreich hin, „die eindeutig mit rassistischen Narrativen spielen, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, Wahlkämpfe, wo Menschen gegeneinander aufgehetzt werden.“
Der Marsch, schreibt der Journalist und Kolumnist Hans Rauscher, an die Macht ist angesagt. Es gibt, setzt er fort, historische Situationen, in denen alles plötzlich kippt.
Um dem etwas entgegenzusetzen, braucht es konkrete, nachvollziehbare Zukunftskonzepte, die uns wieder optimistisch und zuversichtlich stimmen. Und nicht nur als diffuse Utopien, sondern als handfeste, reale und glaubwürdige Angebote. Immer wieder und täglich neu formuliert und eingefordert.
Unter anderem deshalb haben wir uns heute hier versammelt. Um nicht einfach zu schweigen und die Gegebenheiten unkommentiert hinzunehmen. Sondern um nach vorn zu denken und Zukunft zu gestalten.
Weil uns die Vergangenheit und die Gegenwart lehren, dass es auch bei uns für den Bestand und die Weiterentwicklung einer vitalen und intakten Demokratie unermüdliche, kräftige und entschlossene Stimmen braucht. Herzlichen Dank.