Rede anlässlich der Kundgebung #dersteinbleibt vor dem Mahnmal in Braunau am 4. Juli 2020.
Wir feiern heuer 75 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus und das Ende des Zweiten Weltkrieges, der größten Katastrophe der Menschheit. Aber es mehren sich die Stimmen derjeniger, die sagen, es ist so lange vorbei, wir waren selbst nicht mit dabei, wir sind nicht schuldig, lasst die Geschichte endlich ruhen. Geht das? Die Geschichte ruhen lassen, so zu tun, als wäre nichts gewesen, nur weil wir, als Nachgeborene nicht direkt dabei, nicht direkt betroffen waren, uns nicht schuldig gemacht haben? Ich meine Nein. Es geht nicht.
„Ihr seid nicht verantwortlich für das was geschah. Aber dass es nicht wieder passiert, dafür schon.“ Das hat der Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer an uns gerichtet und er bringt es auf den Punkt.
Wenn wir die Geschichte ruhen lassen, wenn wir uns nicht anschauen, wie es soweit kommen konnte, wenn wir uns nicht jeden kleinen Schritt, der zu dieser menschlichen Katastrophe geführt hat veranschaulichen und bewusst machen, laufen wir Gefahr, zu spät oder gar nicht auf aktuelle gefährliche Entwicklungen zu reagieren. Es ist also gerade unsere Verantwortung, die Geschichte wach zu halten, aufzustehen und uns zu empören.
Es hat nicht mit Auschwitz, Dachau oder Mauthausen begonnen. Es hat begonnen mit Ausgrenzung, Diffamierung, Hetze und einer Sündenbockpolitik gegen bestimmte Gruppen. Es waren viele kleine Schritte, jeder zu klein für eine große Empörung, bis es letztlich zu spät war.
Geschichte ist allgegenwärtig. Gerade jene von 1938 bis 1945. Gerade hier in Braunau. Diese Geschichte war lange Zeit auf den Ort Mauthausen reduziert. Mittlerweile gibt es österreichweit viele Gedenkinitiativen, die vor Ort auf die jeweiligen Gräueltaten und Ereignisse aufmerksam machen, so wie das hier in Braunau mit dem Stein passiert.
Geschichte ist aber nicht mit dem Mai 1945 abgeschlossen. Das wird in Braunau besonders sichtbar. Die Geburtsstadt Hitlers, vor allem das Haus, in dem er seine ersten Lebensjahre verbrachte, hat sich zu einem Anziehungspunkt für Rechtsextreme und Neonazis entwickelt.
Und ja, ich halte es für richtig und wichtig, dass hier endlich gehandelt wird und diesem Haus eine andere Bedeutung angemessen wird. Ist die Geschichte damit für Braunau unsichtbar, neutralisiert, wie der Innenminister ankündigt? Nein. Die Stadt Braunau hat sich ihrer historischen Verantwortung angenommen und unter Bürgermeister Skiba diesen Gedenkstein errichtet. Es ist ein Mahnstein – offensichtlich ein Stein des Anstoßes, und das ist gut so – der uns unsere Verantwortung bewusst macht.
Aber wie funktioniert das, sich seiner Verantwortung bewusst zu sein, aus der Geschichte lernen? Das sind große Phrasen, aber wie können wir diese mit Leben füllen? Gilt es nicht gerade aus unserer Geschichte heraus sensibel auf das Jetzt, auf das vermeintlich Alltägliche zu reagieren?
Können wir beispielsweise wegschauen, unsere Grenzen dicht machen, wie es so hart formuliert wird, wenn in griechischen Flüchtlingslagern trotz Corona zig Tausende Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror unter widrigsten Umständen leben, ja überleben müssen?
Nein, können wir nicht. Holen wir die Menschen da raus, zu allererst die Kinder und räumen wir diese menschenunwürdigen Lager.
Können wir ruhig sitzen bleiben, wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert, ja sogar unter Polizeigewalt ermordet werden, wie George Floyd? Rassistische Diskriminierungen sind auch in Österreich an der Tagesordnung.
Nein, können wir nicht. Es ist längst an der Zeit Diskriminierung, egal ob aufgrund der Hautfarbe, Herkunft, Religion, Geschlecht oder sexuellen Orientierung sichtbar zu machen und lautstark und mit Gesetzen dagegen vorzugehen.
Können wir so tun, als wäre es völlig normal, wenn sich 26 % der Bevölkerung laut einer Umfrage einen starken Führer wünschen, der nicht auf demokratische Prozesse angewiesen ist und Entscheidungen autoritär fällen kann?
Nein, können wir nicht. Unsere Demokratie ist unser höchstes Gut und hat mit Sicherheit einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass wir jetzt immerhin schon 75 Jahre in Frieden leben können.
Können wir so tun, als wäre es halb so schlimm, wenn wir seit 2015 ein Hoch an rechtsextremen Straftaten in Österreich erleben, die meisten davon übrigens immer in Oberösterreich?
Nein, das können und dürfen wir nicht. Wer Rechtsextremismus verharmlost oder stillschweigt, legitimiert diese demokratiefeindliche Ideologie der Ungleichheit. Wir müssen im Gegenteil Rechtsextremismus endlich benennen und Maßnahmen ergreifen und umsetzen.
Können wir es einfach hinnehmen, wenn lt. einer Studie nur 20 % der befragten Schüler und Schülerinnen der 9. Schulstufe wissen, was Antisemitismus oder die Reichspogromnacht ist, welche Gruppen neben Juden und Jüdinnen noch von den Nazis verfolgt wurden?
Nein, können wir nicht. Im Gegenteil wird es unsere Aufgabe sein, Bewusstseins- und Demokratiebildung voranzutreiben. Und ja, es wird definitiv schwieriger werden, wenn die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen immer weniger werden. Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen. Und es wird unsere Aufgabe sein, diese Herausforderung anzunehmen, ja, die Geschichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu adoptieren und weiterzuerzählen, damit sie nicht ins Vergessen abrutschen.
Können wir uns wegducken, wenn es allein seit 2013 in Österreich mehr als 100 rechtsextreme Schändungen von Gedenkstätten – inklusive der Gedenkstätte Mauthausen – gab. Wenn Denk- und Mahnmäler zerstört, verschandelt und beschmiert werden?
Nein, können wir nicht. Wenn der antifaschistische Grundgedanke der Zweiten Republik, die Erinnerung und Mahnung unserer Geschichte zerstört und verschandelt wird, darf das nicht verschwiegen werden und muss im Gegenteil Aufruf sein, aktiv gegen Rechtsextremismus vorzugehen.
Nein, wir können nicht wegschauen, wir können uns nicht aus der Affäre ziehen und uns einfach wegducken. Wir dürfen nicht schulterzuckend in Ignoranz verfallen. Unsere Geschichte ist unsere Verantwortung und wir müssen sie tragen, ob wir nun wollen oder nicht.
Geschichte kann nicht neutralisiert werden. Neutralisierung heißt Ausblendung. Ausblenden heißt Vergessen und den Grundstein für das „Nie wieder“ zu zertrümmern. Eine Neutralisierung kann und darf es nicht geben.
Ja, wir dürfen und wir werden Braunau nicht jenen überlassen, die immer noch einer menschenfeindlichen Ideologie nachtrauern, aber nein, wir werden die antifaschistische Arbeit nicht begraben, wir werden sie sichtbar platzieren. Dieser Ort kann nicht geschichtsneutralisiert werden und er darf nicht geschichtsneutralisiert werden.
Statt den Mahnstein von Braunau ins Museum zu verfrachten bringen wir endlich politische Bildung und Demokratiebewusstsein in die Schulen und die Gesellschaft!
Ich habe hier keine persönliche Geschichte zu erzählen. Aber diese Geschichte ist meine persönliche Geschichte. Sie ist unsere gemeinsame persönliche Geschichte und unsere gemeinsame Verantwortung. Deshalb von dieser Stelle und klar und deutlich: Der Stein bleibt! Und er bleibt genau hier. Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!